von Erich Kästner
NACHDENKLICHE REISE
Kürzlich las ich das Gedicht „Stiller Besuch“ von Erich Kästner. Dabei habe ich mich gefragt, wie oft wir solche stillen Momente in unserem Leben zulassen. Wie oft nehmen wir uns die Zeit, um innezuhalten und diese unaufdringlichen Augenblicke bewusst wahrzunehmen? Es hat mich inspiriert, meinen Blick für die Feinheiten des Alltags wieder mehr zu schärfen und die stillen Besuche in meinem Leben nicht zu übersehen.
Zum Gedicht
Erich Kästners Gedicht „Stiller Besuch“ ist eines dieser Werke, welches einen sanft und doch eindringlich berührt. Als ich es las, spürte ich eine besondere Stille – eine Mischung aus Melancholie und tiefem Verständnis für die leisen Momente des Lebens. Dieses Gedicht entführte mich. Es entführte mich zu den feinen Zwischennoten. Die, die ich oft übersehe.
Poesie des Unauffälligen
In seinem Gedicht „Stiller Besuch“ beschreibt Erich Kästner einen Augenblick in Reflexion. Er schleicht sich wie ein unbemerkter Gast in den Alltag. Seine Worte fließen ruhig, fast zögerlich, und doch tragen sie eine enorme Tiefe in sich. Die Sprache ist klar und unaufdringlich, fast so, als möchte sie den Leser nicht stören, sondern einladen, mit offenen Augen und einem wachen Herzen zu lauschen.
Vergänglichkeit und Gegenwart
Was mich an diesem Gedicht besonders fasziniert, ist die Art und Weise, wie Kästner die Vergänglichkeit thematisiert. Ohne Pathos, aber mit einer sanften Melancholie, zeigt er, wie vergangene Erlebnisse Spuren hinterlassen. Dieser „stille Besuch“ ist nicht nur eine Metapher zum Nachdenken, sondern auch für das Leben selbst, das uns manchmal unbemerkt berührt und uns Veränderungen mit auf den Weg gibt.

Stiller Besuch
von Erich Kästner
Jüngst war seine Mutter zu Besuch.
Doch sie konnte nur zwei Tage bleiben.
Und sie müsse Ansichtskarten schreiben.
Und er las in einem dicken Buch.
Freilich war er nicht sehr aufmerksam.
Er betrachtete die Autobusse
und die goldnen Pavillons am Flusse
und den Dampfer, der vorüberschwamm.
Seine Mutter hielt den Kopf gesenkt.
Und sie schrieb gerade an den Vater:
„Heute abend gehen wir ins Theater
Erich kriegte zwei Billets geschenkt.“
Und er tat, als ob er fleißig las.
Doch er sah die Nähe und die Ferne,
sah den Himmel und zehntausend Sterne
und die alte Frau, die drunter saß.
Einsam saß sie neben ihrem Sohn.
Leise lächelnd. Ohne es zu wissen.
Stadt und Sterne wirkten wie Kulissen.
Und der Wirtshausstuhl war wie ein Thron.
Ihn ergriff das Bild. Er blickte fort.
Wenn sie mir schreibt, mußte er noch denken,
wird sie ihren Kopf genau so senken.
Und dann las er. Und verstand kein Wort.
Seine Mutter saß am Tisch und schrieb.
Ernsthaft rückte sie an ihrer Brille,
und die Feder kratzte in der Stille.
Und er dachte: Gott, hab ich sie lieb!
Aus Kästners Band ‚Ein Mann gibt Auskunft‘, erschienen 1960 im Atrium Verlag als (Zürich) als Taschenbuch, und seit 1985 ebendort in einer Neuausgabe