Ein Gedicht von

DETLEV VON LILIENCRON

Zwischen Sonnenschein und Nachtigall

Der Juni ist schon wieder vorbei, der Juli halb gelebt und ich frage mich, wohin die Zeit verschwunden ist. Statt lauer Abende und flirrender Hitze hat sich der Sommer in diesem Jahr eher in Zurückhaltung geübt. Mal Sonne, mal Regen. Mal Leichtigkeit, mal Müdigkeit.

Sommer in Gedanken

Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn suche. Und manchmal finde ich ihn ganz unerwartet: in Worten.

Neulich fiel mir ein Gedicht von Detlev von Liliencron in die Hände. „Schöne Junitage“ – ein Titel, der in mir sofort Bilder wachruft. Ein bisschen sanft und ein bisschen melancholisch. Jede Strophe endet mit derselben Zeile:

„Flussüberwärts singt eine Nachtigall“.

Wie ein stiller Herzschlag zieht sich diese Zeile durchs Gedicht. Das Gedicht hat mich sehr berührt. Es hat mich mitgenommen auf eine kleine Reise und mir offenbart, dass Sommer nicht immer Hitze, Reisen oder Trubel bedeutet, sondern manchmal einfach nur ein Abend, an dem man bei offenem Fenster sitzt, ein Gedicht liest und die eigene Sehnsucht spürt.

Aber lies selbst und spüre in das Gedicht hinein!

Schöne Junitage
Detlev von Liliencron
(1844 – 1909)

Mitternacht, die Gärten lauschen,
Flüsterwort und Liebeskuss,
Bis der letzte Klang verklungen,
Weil nun alles schlafen muss –
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.

Sonnengrüner Rosengarten,
Sonnenweiße Stromesflut,
Sonnenstiller Morgenfriede,
Der auf Baum und Beeten ruht –
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.

Straßentreiben, fern, verworren,
Reicher Mann und Bettelkind,
Myrtenkränze, Leichenzüge,
Tausendfältig Leben rinnt –
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.

Langsam graut der Abend nieder,
Milde wird die harte Welt,
Und das Herz macht seinen Frieden,
Und zum Kinde wird der Held –
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.