Die Unbekannten
5 GEDICHTE
Rainer Maria Rilke ist bekannt für seine berühmten Werke wie die „Duineser Elegien“. Aber er schrieb auch viele Gedichte, die nicht so bekannt sind.
Sie fanden sich in seinen alten Notizbüchern und Briefen und zeigen eine ganz andere Seite von Rilke.
Hier möchte ich Euch einige dieser unbekannten Gedichte vorstellen – genauso wundervolle Werke eines großen Dichters!

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Rainer Maria Rilke
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.
Dein großer Mantel läßt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange –
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoss.
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.
Dass ich nicht war vor einer Weile
Rainer Maria Rilke
Dass ich nicht war vor einer Weile,
weißt du davon? Und du sagst nein.
Da fühl ich, wenn ich nur nicht eile,
so kann ich nie vergangen sein.
Ich bin ja mehr als Traum im Traume.
Nur was sich sehnt nach einem Saume,
ist wie ein Tag und wie ein Ton;
es drängt sich fremd durch deine Hände,
daß es die viele Freiheit fände,
und traurig lassen sie davon.
So blieb das Dunkel dir allein,
und, wachsend in die leere Lichte,
erhob sich eine Weltgeschichte
aus immer blinderem Gestein.
Ist einer noch, der daran baut?
Die Massen wollen wieder Massen,
die Steine sind wie losgelassen
und keiner ist von dir behauen…
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens
Rainer Maria Rilke
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
Siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
Aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s? –
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
Unter den Händen. Hier blüht wohl
Einiges auf; aus stummem Absturz
Blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann,
Und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewußtseins,
Manches umher, manches gesicherte Bergtier,
Wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
Kreist um der Gipfel reine Verweigerung. – Aber
Ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens…
So hat man sie gemalt; vor allem Einer
Rainer Maria Rilke
So hat man sie gemalt; vor allem Einer,
der seine Sehnsucht aus der Sonne trug.
Ihm reifte sie aus allen Rätsein reiner,
aber im Leiden immer allgemeiner:
sein ganzes Leben war er wie ein Weiner,
dem sich das Weinen in die Hände schlug.
Er ist der schönste Schleier ihrer Schmerzen,
der sich an ihre wehen Lippen schmiegt,
sich über ihnen fast zum Lächeln biegt –
und von dem Licht aus sieben Engelskerzen
wird sein Geheimnis nicht besiegt.
Vorfrühling
Rainer Maria Rilke
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.