Über die Liebe
UND DAS MEER
Noch dauert der Morgen
Der Morgen hält den Atem an. Die Nacht ist bereits im Rückzug, doch das Licht wagt vorsichtig seine ersten Schritte. Nebel löst sich von der Erde, und die Sonne zeichnet mit einem rosa Strahl eine Straße in das Silber der Wolken.
In solch flüchtiger Stunde entfaltet sich die Zartheit von José Saramagos Gedicht „Noch dauert der Morgen“. Es ist der Moment des Übergangs, in dem sich die Welt verwandelt und zugleich das Innere der Liebenden berührt.
Doch inmitten dieser Schönheit liegt auch etwas Schmerzliches. Das Gedicht trägt den Ton einer Liebe, die das „Noch“ kennt. Das Wissen darum, dass dieser Morgen nicht ewig hält, dass Nähe flüchtig ist und Ihnen vielleicht schon bald aus den Armen gleitet. Gerade darin wohnt die Sehnsucht nach dem längeren Verweilen, nach dem Mehr, nach dem Bleiben.
Saramago hält diesen kurzen Schwebezustand in seinen Zeilen fest. Den Moment des Wandels und der Erkenntnis, dass die gemeinsame Zeit der Liebenden bald endet. Man spürt beim Lesen die tiefe Sehnsucht, diesen Augenblick festhalten zu wollen.

Noch dauert der Morgen
von José Saramago
Noch dauert der Morgen, da schlafen schon
Die Winde am Himmel ein. Sacht hebt sich
Der alte, matte Nebel vom Boden.
Die Sonne eröffnet rot eine Straße
Im wolkigen Silber dieser Wasser.
Es ist Morgen, Geliebte, die Nacht enteilt,
Und im Honig deiner Augen trübt sich
Das Bittere der Schatten und des Kummers.
Quelle: José Saramago,
„Über Liebe und das Meer: Gedichte“, Verlag Hoffmann und Campe.
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