Ein Gedicht, das nachklingt

IST ER ICH? UND BIN ICH ER?“

Eines meiner absoluten Lieblingsgedichte von Mascha Kaléko ist „Irgendwer“. Schon der erste Vers lässt einen innehalten. Mit nur wenigen Wörtern verdichtet sie ein Gefühl, das wohl jeder kennt: die Frage, ob da etwas Größeres ist, das unser Leben lenkt oder ob wir es selbst sind, die all das erschaffen.

Einer ist da, der mich denkt.
Der mich atmet. Der mich lenkt.

Diese Zeilen klingen wie ein stiller Dialog. Man könnte an eine höhere Macht denken, an das Göttliche, an das Schicksal. Aber genauso gut spricht Kaléko hier von einem inneren Gegenüber; von dem Teil in uns, der uns trägt, auch wenn wir uns manchmal verloren fühlen.

Mich berührt besonders die Offenheit dieser Worte. Es gibt keine klare Antwort, nur die tastende Frage: „Wer ist dieser Irgendwer? Ist er ich? Und bin ich Er?“ Gerade darin liegt die Stärke des Gedichts, dass es nicht erklärt, sondern spürbar macht, wie sehr wir Menschen immer wieder zwischen Zweifel und Vertrauen, zwischen Selbst und Etwas-das-größer-ist schwanken.

Mascha Kaléko gelingt es, eine jahrhundertealte Frage so schlicht und modern zu formulieren, dass sie direkt ins Heute passt. Für einen Moment lang fühle ich mich beim Lesen mit mir selbst verbunden, aber irgendwie auch mit anderen, und vielleicht auch mit diesem geheimnisvollen „Irgendwer“.

Irgendwer
von Mascha Kaléko

Einer ist da, der mich denkt.
Der mich atmet. Der mich lenkt.
Der mich schafft und meine Welt.
Der mich trägt und der mich hält.
Wer ist dieser Irgendwer?
Ist er ich? Und bin ich Er?

erschienen in: „Mein Lied geht weiter – Hundert Gedichte“
(dtv Verlag)

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