Gibt es das? Oder wie kurz kann ein Gedicht sein?

POESIE IN WENIGEN ZEICHEN

Als ich mal wieder in die Welt der Gedichte abgetaucht bin, stieß ich auf die Frage: Was ist das kürzeste Gedicht der Welt? Im Internet kursieren verschiedene Gedichte und ich möchte Euch heute einige davon vorstellen.

Eines der kürzesten Gedichte der Welt stammt möglicherweise von Aram Saroyan. Es besteht aus nur einem Wort. Saroyan nannte dieses Werk „lighght“. Es ist eher sehr minimalistisch, wurde aber als ein eigenständiges Gedicht anerkannt.

Trotzdem „lighght“ nur aus einem Wort besteht, scheint es dennoch nicht inhaltsleer zu sein. Betrachtet man die Zusammensetzung des Wortes (light mit einem zusätzlichen gh) und die von Saroyan in seiner Essay- und Rezensionssammlung „Door to the River“ behauptete Wirkung des Gedichts, dann sei „das Licht selbst greifbarer zu machen, als ob das Wort das Phänomen enthält“. „Licht“ kann in der englischen Sprache ein Substantiv, ein Verb oder auch ein Adjektiv sein. Das zusätzliche „gh“ ist unaussprechlich und nicht greifbar.

In der Praxis wird das Gedicht in der Regel als eine Ansammlung von Buchstaben dargestellt,

L-I-G-H-G-H-T

und nicht als eine einzige Silbe vorgelesen. Somit hat das Gedicht sieben Silben und stellt mit seiner Besonderheit die Grenzen und Definitionen von Gedichten in Frage.

Und welches Gedicht findet sich noch?

Es ist ein Haiku in japanischer Schrift und heißt „Der alte Teich“. In Japan ist dieses Gedicht sehr berühmt und stammt von Matsuo Basho. Hier ist es:

古池や 蛙飛び込む 水の音

Furu ike ya kawazu tobikomu mizu no oto

Übersetzung ins Deutsche:
Der alte Teich – ein Frosch springt hinein, das Geräusch des Wassers.

Ein Haiku ist die kürzeste Gedichtform der Weltliteratur. In der japanischen Schrift kann jedes Schriftzeichen (Kanji oder Hiragana) in der Regel für ein ganzes Wort stehen. Das Haiku „Der alte Teich“ besteht aus 17 Schriftzeichen, aber jedes Schriftzeichen repräsentiert ein einzelnes Wort oder eine Silbe, was es kompakt und prägnant macht. In der Übersetzung ins Deutsche sind es dann mehr Wörter, um den Sinn des Haikus zu übermitteln.

Spannend!

Ein weiteres kurzes Gedicht aus der Weltliteratur

Es ist ein englisches Gedicht, und zwar von William Carlos Williams: „The Red Wheelbarrow“

Es stammt aus dem Jahre 1923 und gehört mit sechzehn ungereimten Wörtern zu den berühmtesten Gedichten von William Carlos Williams. Es regt immer wieder zu Diskussionen über seine genaue Bedeutung an. Aber seht selbst:

The Red Wheelbarrow

so much depends
upon

a red wheel
barrow

glazed with rain
water

beside the white
chickens

Wenn man dieses Gedicht einmal ins Deutsche übersetzt, dann hört es sich so an:

Die rote Schubkarre

Es hängt so viel
von

einer roten, mit Regenwasser
glasierten Schubkarre

neben den weißen
Hühnern ab.

Im ersten Moment erscheint das Gedicht sehr einfach, aber bei genauerer Betrachtung merkt man, dass es eine Schöpfung über die Schönheit des alltäglichen Lebens ist. Dazu muss man wissen, dass William Carlos Williams als Armenarzt in seinem Geburtsort in New Jersey arbeitete und lebte.

Er lädt die Lesenden mit seinem Gedicht ein, über die einfachen Dinge des Lebens nachzudenken; deren Schönheit oder auch im Allgemeinen die Schönheit des Lebens wahrzunehmen und erinnert daran, dass alles auf dieser Welt miteinander verbunden ist.
Das Gedicht „The Red Wheelbarrow“ oder auch „Die rote Schubkarre“ bezeugt bei näherer Betrachtung eine starke Botschaft.

Die erste Zeile lässt bereits durch seine prägnante Aussage vermitteln, dass vieles in der Schwebe hängt oder dass vieles von dem abhängt, was im weiteren Gedicht beschrieben wird. Danach folgt die Enthüllung des Gegenstandes – die Schubkarre. Sie ist mit Regenwasser überzogen, was das Rot der Karre noch mehr zum Glänzen und Strahlen bringt. Ein solch einfacher Gegenstand mutiert durch Regen zu einem herausstechenden Alltagsgegenstand. Und wofür stehen die weißen Hühner? Sie betonen die rote Schubkarre; verhelfen ihr im bildlichen Sinne zu noch mehr Größe und lassen gleichzeitig erahnen, dass alles im Leben miteinander verbunden ist: Der Regen, die Schubkarre und die Hühner.

Dieses kurze Gedicht mit seinen 16 Wörtern symbolisiert die Natur, das Leben und die Schönheit.

Und zum Schluss die Frage: Schrieb auch ein deutscher Dichter ein kurzes Gedicht?

Aber sicher! Ein Beispiel für ein sehr kurzes deutsches Gedicht stammt von Otto Julius Bierbaum:

„Fiat Lux!“ sprach Gott, und es ward Licht.

Es besteht nur aus sieben Wörtern und ist ein einfacher, prägnanter Ausdruck. Gedichte können in unterschiedlichen Formen und Längen existieren, und dieses Beispiel von Otto Julius Bierbaum ist ein extrem kurzes, aber dennoch anerkanntes poetisches Werk.

Es verkörpert die Idee der Schöpfung, indem es die Worte „Fiat Lux!“ („Es werde Licht!“) verwendet, ein Ausdruck, der auch in der Bibel im Zusammenhang mit der Erschaffung des Lichts verwendet wird.

Ihr seht, es gibt in vielen Sprachen der Welt berühmte kurze Gedichte.

Oft ist weniger bekanntlich mehr.

In diesem Sinne
Eure Kathrin