Eine kurze Betrachtung

ANSICHTSSACHE

Rainer Maria Rilkes Gedicht „Alles ist eins“ zählt zu den frühen Werken des Lyrikers. In seinen Versen beschreibt er einen Moment tiefster Verbundenheit zweier Menschen. Aber vielleicht auch nur das eigene innere Wachstum (durch das Erleben der Liebe).

Das Gedicht beginnt mit dem Bild eines gemeinsamen Verweilens „am Rande des Hains“, wo „Zwei“ (zwei Personen oder auch das frühere und das jetzige Ich) „einsam beisammen“ stehen. Sie sind „festlich, wie Flammen“ und erkennen: „Alles ist eins.“ In meinen Augen eine vorsichtige Formulierung für die Veränderung, die in einem vorgeht, wenn man liebt.

In der innigen Umarmung, im Gefühl des Zusammenwachsens „wie Ast an Ast“, lösen sich die Grenzen zwischen den Individuen auf. Rilke verwendet hier die Natur als Spiegel für die Verschmelzung zweier Seelen: So wie Äste eines Baumes ineinander wachsen, so verbinden sich auch die Liebenden oder eben seine Vergangenheit mit dem Jetzt.

Die Bewegung des Oleanders im Wind wird zum Sinnbild für das gemeinsame Schwingen in einem größeren Rhythmus: „Sieh, wir sind nicht mehr anders, und wir wiegen uns auch.“ Die Trennung zwischen Ich und Du wird aufgehoben.

In wenigen, kraftvollen Zeilen offenbart Rilke eine Wahrheit jenseits des Alltäglichen: Die Liebe schafft eine Einheit, die über das Individuelle hinausreicht. Seine Worte wirken nicht durch Erklärung, sondern durch poetische Verdichtung – sie lassen uns die Einheit spüren, von der sie sprechen.

Das Gedicht wird so zum Schlüssel, der eine andere Sicht auf die Welt eröffnet. Die „Tore gehn auf“ zu einer neuen Wahrnehmung, in der die Vergangenheit nicht mehr als Last, sondern als „lange Allee“ erscheint, als ein Weg, der beschritten wird. Für einen Augenblick fallen die Trennlinien, die unser gewöhnliches Denken zwischen den Dingen zieht.

Aber seht selbst. Ich persönlich lese so viel Verschiedenes aus diesem Gedicht heraus und finde auch immer wieder neue Ansätze zur Interpretation.

Alles ist eins
von Rainer Maria Rilke

Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen –
fühlen: Alles ist eins.

Halten uns fest umfasst,
werden im lauschenden Lande
durch die weichen Gewande
wachsen wie Ast an Ast.

Wiegt ein erwachender Hauch
die Dolden des Oleanders:
Sieh, wir sind nicht mehr anders,
und wir wiegen uns auch.

Meine Seele spürt,
dass wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?

Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und bald wandern wir weiter:
Tore gehn auf…

Und wir sind nichtmehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.

Aus: Dir zur Feier (1897/98), ein kleiner Band wird oft als eine „große Liebeserklärung an Lou“ bezeichnet. Aber vielleicht war es eher eine große Talentprobe vor Lou (Lou Andreas-Salomé).

Mit ihr korrespondierte er im zarten Alter von ca. 22 Jahren; also in seinen frühen Jahren, und versuchte sich noch selbst zu finden.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, österreichischer Erzähler und Lyriker