Von Rainer Maria Rilke
ZURÜCK ZU DIR SELBST
Wenn die Gedanken kreisen und To-do-Listen den Takt vorgeben, kann ein kurzer Augenblick der Ruhe wie ein tiefes Durchatmen wirken.
Worte können dabei wie Anker sein; besonders, wenn sie so feinfühlig und klar sind wie die von Rainer Maria Rilke. Sein Text Innehalten weist darauf hin, wie wichtig es ist, dem Augenblick Raum zu geben.
Vielleicht lässt Du Dich beim Lesen einen Moment lang tragen und findest in seinen Zeilen genau das, was Du gerade brauchst.

Innehalten
Von Rainer Maria Rilke*
Man muss den Dingen die eigene, ungestörte
Entwicklung lassen, die tief von innen kommen
muss und durch nichts gedrängt oder
beschleunigt werden kann.
Alles ist austragen und dann gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht
drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings
steht, ohne die Angst, dass dahinter kein
Sommer kommen könnte.
Er kommt doch.
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da
sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so
sorglos still und weit. Man muss Geduld haben
mit dem Ungelösten im Herzen und versuchen,
die Fragen selber lieb zu haben, wie
verschlossene Stuben und wie Bücher, die in
einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht
allmählich, ohne es zu merken, eines fremden
Tages in die Antworten hinein.
Was für ein wundervoller Text. Ich mag ihn sehr und hoffe, Du auch!
* Dieser Text wird Rainer Maria Rilke zugeschrieben.
Die Zeilen stammen aus einem Brief von Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus, erschienen 1929 in „Briefe an einen jungen Dichter“ im Insel Verlag.